04.01.13: Nach Göttingen, Regensburg und München: Transplantationsskandal in Leipzig – Mediziner unter Manipulationsverdacht bei Organspende-Warteliste
Gleich zu Beginn des neuen Jahres sorgt ein neuer Transplantationsskandal für Schlagzeilen, die wie kein anderes biopolitisches Thema die Medien dieser Woche beherrschten. Nach Göttingen, Regensburg und München gab es auch am Universitätsklinikum Leipzig (UKL) zahlreiche Verstöße gegen Richtlinien bei der Meldung von Kandidaten zur Lebertransplantation.
Derzeit überprüfen vor dem Hintergrund der vorangegangenen aufgedeckten Skandale die Prüfungskommission und die Überwachungskommission von Bundesärztekammer, Deutscher Krankenhausgesellschaft und GKV-Spitzenverband die Einhaltung der Transplantationsrichtlinien in allen deutschen Transplantationszentren. Wie die Uniklinik Leipzig am Neujahrstag in einer Presseerklärung mitteilte, habe eine am 10. Dezember 2012 begonnene Stichprobenprüfung der in den Jahren 2010 und 2011 am UKL lebertransplantierten Patienten Hinweise auf Dokumentationsmängel und Regelverstöße insbesondere bei der Angabe von Nierenersatzverfahren ergeben.
38 Fälle
Dabei wurden Medienberichten zufolge in 38 Fällen Patienten auf der Warteliste kranker gemacht als sie tatsächlich waren. So sollen für 2010 und 2011 bei 37 von 54 an die für die Organvergabe zuständigen Stelle Eurotransplant gemeldeten Dialyse-Patienten Dialysen angegeben worden sein, für die die Durchführung nicht nachgewiesen werden konnte. Ein Fall bezieht sich auf 2012. Diese Falschangaben haben für die einzelnen Patienten zu einer Erhöhung des Punktwerts des sogenannten MELD-Scores geführt und damit zu einer höheren Dringlichkeit auf der Warteliste bei Eurotransplant.
Das Motiv der Manipulationen und ob dafür Gelder geflossen sind, ist noch unklar. Der Chef der Klinik wollte eventuelle Geldzahlungen nicht ausschließen. Die Untersuchungen aller durchgeführten Transplantationen sind noch nicht abgeschlossen. Unterdessen hat auch die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen aufgenommen. Diese dauern noch an und werden vermutlich noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Nähere Details wurden bisher nicht bekannt.
Reaktionen auf den Transplantationsskandal in Leipzig
Als Konsequenz der Manipulationen hat der Klinikumsvorstand auf Grundlage dieses am 28.12.12 gesichert vorliegenden Untersuchungsergebnisses den verantwortlichen Direktor der Klinik für Viszeral-, Transplantations-, Thorax- und Gefäßchirurgie sowie zwei Oberärzte „mit sofortiger Wirkung von ihren Aufgaben in der Krankenversorgung entbunden“, teilte das Uniklinikum Leipzig mit. Die Leitung des Transplantationsprogramms wurde „auf einen sehr erfahrenen Oberarzt der Klinik“ übertragen.
Der Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Dr. Frank Ulrich Montgomery, rechnet laut einem Bericht der „Passauer Neuen Presse“ vom 03.01.13 auch an anderen Kliniken mit der Aufdeckung weiterer derartiger Fälle aus der Vergangenheit. Denn bisher seien erst zehn von insgesamt 47 Transplantationszentren stichprobenartig untersucht worden.
Die Fälle in Leipzig seien „erschreckend“. Gleichwohl sieht Montgomery die von der Prüfungs- und Überwachungskommission von Bundesärztekammer, Deutscher Krankenhausgesellschaft und GKV-Spitzenverband aufgedeckten Fälle als Beleg für die Wirksamkeit der Kontrollen der Selbstverwaltung. „Unser scharfes Kontrollsystem, das wir nach den Vorfällen in Göttingen und Regensburg im letzten Jahr eingeführt haben, greift“, sagte er gegenüber der „Bild“-Zeitung am 2. Dezember.
Deutsche Stiftung Patientenschutz fordert Schwerpunktstaatsanwaltschaft und unabhängige Kommission
Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, ehemals Deutsche Hospiz Stiftung, Eugen Brysch fordert eine Schwerpunktstaatsanwaltschaft und die Einberufung einer unabhängigen Kommission. „Als die ersten Fälle im Juli 2012 aufgedeckt waren, wurde bagatellisiert. Dann war die Empörung groß und jetzt werden die Fälle nur noch gezählt. Damit alle Vorwürfe lückenlos aufgeklärt werden können, muss jetzt schnell eine zentral arbeitende Schwerpunktstaatsanwaltschaft eingerichtet werden“, erklärte Brysch in einer Presseaussendung vom 02.01.13.
Darüber hinaus müsse der Gesetzgeber das Transplantationssystem in staatliche Hände legen. Dafür müsse Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr einen verbindlichen Zeitplan vorlegen. Die Hälfte der bestehenden 49 Transplantationszentren reiche nach Ansicht von Brysch aus.
„Die neuen Manipulationsvorwürfe zeigen: Die Unregelmäßigkeiten im Organspendesystem sind keine Einzelfälle. Je mehr Transplantationszentren die privaten Prüfungs- und Überwachungskommissionen nach öffentlichem Druck jetzt genauer kontrollieren, desto mehr Manipulationen kommen ans Licht. Doch es ist immer noch nicht geklärt, wer die Verantwortung dafür trägt“, so der Patientenschützer. Selbst strafrechtliche Konsequenzen seien fraglich, wie das Beispiel Göttingen zeige.
„Die Manipulationsanfälligkeit im von der Politik geschaffenen Transplantationssystem liegt aber nicht am mangelnden Strafrecht, sondern am politischen Versagen. Denn nicht der Gesetzgeber setzt die Maßstäbe und führt die Kontrollen durch. Das überlässt er privaten Akteuren. Das ist vor allem die Bundesärztekammer. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass Bundesgesundheitsminister Bahr und die zuständigen Landesminister ihre Hände in Unschuld waschen. Es gibt niemanden, der politisch verantwortlich ist“, kritisierte Brysch. Bahr müsse jetzt endlich eine unabhängige Kommission beim Bundesgesundheitsministerium einrichten, der auch kritische Ärzte, Ethiker und Juristen angehören, die nicht am Transplantationssystem beteiligt sind und damit Geld verdienen.
Transplantationsszene endlich wirksam kontrollieren
Ähnliche Kritik kam auch von der Linksfraktion im Deutschen Bundestag. „Wir brauchen dringend eine öffentliche Kontrolle des Transplantationssystems. Richtlinienkompetenz, Koordination und Überwachung gehören in öffentliche Hände“, erklärte Kathrin Vogler, Abgeordnete der Linken und stellvertretende Vorsitzende im Gesundheitsausschuss des Bundestags in einer Pressemitteilung vom 02.01.13. „Selbst wenn solche Manipulationen aus uneigennützigen Motiven heraus erfolgt sind: Es kann nicht hingenommen werden, dass Ärzte Gesetze und Richtlinien missachten und sich zum Bestimmer über Leben und Tod machen“ so Vogler mit Blick auf die aktuellen Fälle weiter.
Das Vertrauen in die Transplantationsszene sei mittlerweile erschöpft. Die Linkenabgeordnete forderte für die Zukunft eine „unbedingte Transparenz über sämtliche Vorgänge“. „Zentrale Entscheidungen zur Organspende dürfen nicht länger an eine private Stiftung, die DSO, und an einen nicht eingetragenen Verein wie die Bundesärztekammer abgetreten werden. Hilfreich wäre auch, bei der Neugestaltung nicht nur auf die zu hören, die am bisherigen System gut verdienen, sondern kritische Stimmen einzubeziehen“, mahnte Vogler.
Auch Karl Lauterbach, gesundheitspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, forderte im Deutschlandfunk-Interview am 3. Dezember schärfere Kontrollen bei der Transplantationsmedizin. Ergänzend erklärte er mit Blick auf mögliche Reaktionen im Bundestag: „Wir arbeiten derzeit parteiübergreifend an weiteren Regeln, die das ganze Verfahren transparenter und manipulationsunanfällig machen sollen. Wir versuchen, dieses Thema aus dem Wahlkampf und aus dem Parteienstreit zu isolieren, indem wir parteienübergreifend im Gesundheitsministerium nach einer Lösung suchen.“
Weiterführende Informationen:
- Verstöße gegen Richtlinien bei der Meldung von Kandidaten zur Lebertransplantation am Universitätsklinikum Leipzig
Vor dem Hintergrund der im Jahr 2012 bekannt gewordenen Regelverstöße an deutschen Universitätsklinika bei der Meldung von Patienten zur Lebertransplantation hat der Vorstand des Universitätsklinikums Leipzig am 27. Juli 2012 die Innenrevision beauftragt, die Strukturen und Prozesse zur Meldung von Kandidaten zur Lebertransplantation bei Eurotransplant sowie die Führung der gelisteten Patienten bis zum Zeitpunkt der Transplantation ebenso kritisch zu prüfen wie sämtliche Meldevorgänge an Eurotransplant bei allen seit 01.01.2007 am Transplantationszentrum Leipzig lebertransplantierten Patienten.
PRESSEMITTEILUNG Universitätsklinikum Leipzig vom 01.01.13
- Überprüfung des Transplantationszentrums Leipzig zeigt Unregelmäßigkeiten
Berlin. In Wahrnehmung ihrer gesetzlich vorgeschriebenen Aufgaben haben die Prüfungskommission und die Überwachungskommission – in gemeinsamer Trägerschaft von Deutscher Krankenhausgesellschaft, GKV-Spitzenverband und Bundesärztekammer – am Transplantationszentrum Leipzig Unregelmäßigkeiten festgestellt.
Gemeinsame PRESSEMITTEILUNG von Prüfungskommission und Überwachungskommission in gemeinsamer Trägerschaft von Deutscher Krankenhausgesellschaft, GKV-Spitzenverband und Bundesärztekammer 01.01.2013
- Der Anreiz für Korruption ist „massiv gestiegen“
SPD-Gesundheitsexperte fordert schärfere Kontrollen bei der Transplantationsmedizin
Karl Lauterbach im Gespräch mit Peter Kapern
DEUTSCHLANDFUNK 03.01.13
Themenspecials zu den Transplantationsskandalen in Göttingen, Regensburg und München:
- 06.10.12: Nach Regensburg und Göttingen: Transplantationsskandal in Münchner Klinikum rechts der Isar
- 30.08.12: Spitzentreffen im Bundesgesundheitsministerium zu Transplantationsskandalen verspricht mehr Transparenz und Kontrolle bei Organspenden
- 17.08.12: Transplantationsskandal: Keine weiteren Verdachtsfälle in Regensburg – Anhaltende Diskussion über Konsequenzen
- 11.08.12: Steigende Zahl an beschleunigten Vermittlungsverfahren bei Transplantationen – Kommissionen, Bundesärztekammer, Deutsche Krankenhausgesellschaft und GKV-Spitzenverband fordern mehr Transparenz und effizientere Kontrolle
- 04.08.12: Organspendeskandal weitet sich aus – Ermittlungen zu Transplantationen in Regensburg
- 28.07.12: Transplantations-Skandal in Göttingen – Mediziner unter Manipulationsverdacht bei Organspende-Warteliste
Presseschau zum Transplantationsskandal in Leipzig
Ergänzend finden Sie eine Presseschau mit einer Auswahl an Meldungen zum Organspendeskandal in Leipzig. Diese Zusammenstellung wird gegebenenfalls weiter ergänzt.