18.09.10: Nach Steinmeiers Nierenspende – Debatte über Widerspruchslösung bzw. Zwangserklärungsregelung bei Organspenden – Teil 2
Mit Ergänzung am 20.09.10 und Ergänzung am 10.11.10
Ende August 2010 hat der ehemalige Außenminister und derzeitige SPD-Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier mit der Nierenspende für seine kranke Frau großen Zuspruch und Bewunderung geerntet (siehe Pressespiegel unten) und Bewegung in die Debatte über eine Reform des Transplantationsgesetzes gebracht. Hintergrund der Debatte ist die anhaltende mangelnde Zahl der potenziellen Organspendern gegenüber den 12.000 Menschen in Deutschland, die auf ein neues Organ warten. Nach Schätzungen der Deutschen Stiftung Organtransplantation sterben pro Jahr 1.000 Patienten auf der Warteliste.
Derzeit gilt in Deutschland eine „erweiterte Zustimmungslösung“. Das bedeutet, eine Organentnahme ist nur bei Menschen gestattet, die zu Lebzeiten dem ausdrücklich zugestimmt haben und bei denen der sogenannte Hirntod festgestellt wurde. Sofern keine Einwilligung vorliegt, müssen Angehörige über die Frage einer Organentnahme entscheiden.
Um die Zahl der Organspender in Deutschland zu erhöhen, will der gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Karl Lauterbach, nun eine fraktionsübergreifende Initiative zur Reform des Transplantationsgesetzes starten.
Angesichts des eklatanten Organmangels in Deutschland müsse eine Regelung gefunden werden, die die Organspende zur Regel mache und nur bei ausdrücklichem Widerspruch zu unterlassen sei, erklärte Lauterbach gegenüber dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ am 30.08.10. Er halte das „ethisch für geboten“. Der SPD-Politiker betonte, dass es zur der Problematik innerhalb aller Bundestagsfraktionen unterschiedliche Auffassungen gebe. Es handele sich nicht um eine parteipolitische Frage. Daher solle der Bundestag, ähnlich wie in den Debatten zur Stammzellforschung und der Patientenverfügung, Reformmodelle erörtern und ohne Fraktionszwang abstimmen.
Auch Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger von der FDP-Fraktion forderte laut einem Bericht in der „Welt“ vom 30.08.10, offen über die Widerspruchsregelung bei Organspenden zu diskutieren. Ihr FDP-Fraktionskollege, Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler, äußerte sich dagegen zurückhaltend. „Ich halte nichts von Zwang“, sagte Rösler der Welt am Sonntag in einem Interview am 29.08.10 (siehe Rösler: „Eine Organspende kann und darf nicht gesetzlich verordnet werden“). Damit baue man allenfalls emotionale Hürden auf, statt Vorbehalte zu entkräften. Die Überzeugung, anderen zu helfen, sei der stärkste Beweggrund für die Organspende. „Das kann nur freiwillig gehen“, ist Rösler überzeugt.
Unionsabgeordnete hatten sich am Wochenende 28./29.08.10 ebenfalls für die Einführung der Widerspruchslösung ausgesprochen. Insbesondere der Obmann der Unionsfraktion im Gesundheitsausschuss, Rolf Koschorrek (CDU) will sich hierfür einsetzen. Aber auch innerhalb der Union gibt es kritische Stimmen wie Jens Spahn, der nach anderen Lösungen suchen will.
Geteilte Reaktionen der Bundesärztekammer
Geteilte Reaktion zu den Plänen gab es von Seiten der Ärzteschaft. Der Präsident der Bundesärztekammer Prof. Jörg Dietrich Hoppe, zeigte sich gegenüber der Widerspruchslösung, nach der Hirntoten Organe entnommen werden können, sofern sie dem zu Lebzeiten nicht ausdrücklich widersprochen haben, aufgeschlossen. Diese Regelung könne dazu beitragen, mehr Menschenleben zu retten, so Hoppe in einer Pressemitteilung am 30.08.10. Deshalb habe auch der diesjährige Deutsche Ärztetag in Dresden eine gesetzliche Regelung im Sinne einer Widerspruchslösung gefordert (siehe Teil 1. des Themenspecials zur Widerspruchslösung anläßlich des Tages der Organspende am 05.06.10).
Wichtig sei allerdings, darauf zu achten, dass es mit der jetzt beginnenden Diskussion nicht wieder zu erheblichen Verunsicherungen der Bevölkerung und damit zu einem Rückgang der Spendebereitschaft kommt. Zugleich müssten endlich flächendeckend Transplantationsbeauftragte in den Krankenhäuser bestellt werden. Ohne diese strukturelle Maßnahme, die Ärztetage wiederholt eingefordert hatten, bestehe die Gefahr, dass die Chance auf ein gesundes Spenderorgan vertan wird, so Hoppe.
Dagegen sprach sich der Vizepräsident der Bundesärztekammer, Frank-Ulrich Montgomery, gegen die Einführung einer Widerspruchsregelung aus. Schon die Debatte darüber, ob man Verstorbenen künftig Organe entnehmen darf, wenn sie dem nicht zu Lebzeiten widersprochen haben, verstärke bestehende Ressentiments, sagte Montgomery dem Berliner „Tagesspiegel“ am 30.08.10. „Sie macht mehr kaputt als sie an Nutzen bringt.“ Auch gegen die Forderung, jedem Bürger zumindest eine Entscheidung für oder gegen die Organspende abzuverlangen, wandte sich der Ärztefunktionär. Jeder Mensch habe auch das Recht, sich mit seinem Lebensende nicht zu befassen, sagte er.
Die Deutsche Stiftung Organtransplantation hielt sich bislang auffallend still in der Debatte. Dies ist bemerkenswert vor dem Hintergrund, dass die DSO normalerweise jede Gelegenheit nutzt, um auf den Organspendermangel aufmerksam zu machen. Allerdings sprach sich Prof. Dr. med. Günter Kirste, Medizinischer Direktor der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) in Frankfurt am Main, kürzlich gegen die Widerspruchslösung aus. Eine Neuregelung zugunsten der Widerspruchsregelung fände derzeit vermutlich keine gesellschaftliche Akzeptanz und man habe – im Interesse der 12.000 Patienten auf der Warteliste – keine Zeit für lange politische Debatten, so seine Argumentation laut einem Bericht im Deutschen Ärzteblatt 2010; 107(22) vom 04.06.10.
Widerstand gegen Einführung der Widerspruchslösung
Auch die Initiative „Kritische Aufklärung über Organtransplantation e.V. – KAO“ aus Bremen stellt sich vehement gegen die Forderungen, die Widerspruchsregelung ähnlich wie in anderen europäischen Ländern in Deutschland einzuführen. KAO ist eine Initiative von Eltern, die ihre verunglückten Kinder zur Organspende freigegeben haben, ohne die Hintergründe zu diesem Zeitpunkt genau genug zu kennen, und ihre Entscheidung später bereut haben. Der Verein warnte in einer Pressemitteilung vom 3. September auch vor der geplanten Gesetzesänderung, wonach jede größere Klinik mit Intensivstation und Beatmungsplätzen einen Transplantationsbeauftragten einsetzen muss mit dem Ziel, die Familien zu einer Freigabe ihres sterbenden Angehörigen im Hirnversagen für die Organentnahme zu „manipulieren“.
Bei der jetzt geltenden „erweiterten Zustimmungslösung“ werden nach Ansicht der Mitglieder von KAO die Angehörigen im Schockzustand zu einer stellvertretenden Entscheidung genötigt, die sie nicht rückgängig machen können. Nur die „enge Zustimmungslösung“ nach umfassender und ehrlicher Information sei mit unserem Grundgesetz vereinbar. Bei dieser Zustimmungslösung könnten die Empfänger das Fremdorgan möglicherweise eher annehmen, weil sie wissen, dass es eine bewusste Entscheidung war, heißt es weiter. „Wenn die Gesellschaft nicht mehr fragt: „Was braucht dieser sterbende Mensch?“, sondern stattdessen: „Was brauchen wir von diesem sterbenden Menschen?“, dann haben wir das Fundament unseres Zusammenlebens massiv beschädigt“, so KAO. „Die Würde des Menschen ist unantastbar – und zwar in allen Phasen seines Lebens“, bekräftigt die Initiative.
Aktuelle Studien in international anerkannten Fachzeitschriften widerlegen zudem eindeutig den „Hirntod“ als den Tod des Menschen, so KAO. Er werde auch als „legale Fiktion“ bezeichnet, um das Tötungsverbot zu umgehen und um straffrei Organe entnehmen zu können. Um den einseitigen Informationen der internationalen Organ-Beschaffungsorganisationen entgegenzuwirken, betreibt KAO unter www.initiative-kao.de eine eigene Webseite, mit der sie potenzielle Spender auch über die andere Seite der Organtransplantation aufklärt.
Ergänzung 20.09.10: Union will Organspende-Bereitschaft im Pass und Führerschein dokumentieren lassen
In der Organspende-Debatte zeichnen sich in der Unionsfraktion im Deutschen Bundestag mittlerweile erste konkrete Pläne für eine neue Gesetzesinitiative ab, um die Zahl von Organspenden in Deutschland zu erhöhen. Nach Informationen der in Düsseldorf erscheinenden „Rheinischen Post“ vom 14.09.10 haben sich Rechts- und Gesundheitspolitiker der Fraktion darauf verständigt, dass künftig in jedem neu ausgestellten Pass oder Führerschein dokumentiert werden soll, ob der Inhaber als Organspender zur Verfügung steht oder nicht. Da Pässe regelmäßig erneuert und künftig auch Führerscheine nur noch befristet ausgestellt werden, könne auf diesem Weg nach und nach die gesamte Bevölkerung erfasst werden, so die Idee. Einen Umstieg von der Zustimmungs- zur Widerspruchsregelung, wonach der Entnahme von Organen nach dem Tod ausschließlich widersprochen werden muss, lehne die Union ab. „Das würde gegen unser Menschenbild verstoßen“, sagte Fraktionsvize Günter Krings der Zeitung.
Wie der gesundheitspolitische Sprecher der Union, Jens Spahn, dem Blatt zufolge erläuterte, ist zusätzlich geplant, durch eine Gesetzesnovelle an jedem Krankenhaus die Benennung eines Transplantationsbeauftragten vorzuschreiben. Mit einer besseren Vergütung medizinischer Leistungen solle zudem in den Krankenhäusern ein finanzieller Anreiz gesetzt werden, sich mehr um das Thema Organspenden zu kümmern. Im vergangenen Jahr warteten in Deutschland rund 12.000 Menschen auf eine Organtransplantation. Dem standen nur 1217 Organspender gegenüber.
Medienberichten unter Berufung auf Unions-Fraktionschef Volker Kauder (CDU) soll ein Gesetzesvorschlag der Koalition zu Erhöhung der Zahl der Organspenden bereits bis Jahresende vorgelegt werden. Auch er befürwortet eine Zwangserklärungsregelung. Zugleich sprach sich Kauder ebenfalls gegen eine Widerspruchsregelung aus.
Kritik an geplanter Einführung einer Zwangserklärungsregelung
Bei den Grünen im Bundestag stießen die jüngsten Vorschläge der Union, die Organspende-Bereitschaft im Personalausweis zu vermerken, auf scharfe Kritik. „Eine Pflicht, im Personalausweis seine Organspende-Bereitschaft zu vermerken, halten wir für populistisch und nicht zielführend. Es muss Menschen weiterhin freistehen, eine solche Erklärung abzugeben oder nicht“, erklärten Elisabeth Scharfenberg, Sprecherin für Alten- und Pflegepolitik der Grünen-Fraktion, und Harald Terpe, Obmann im Gesundheitsausschuss in einer gemeinsamen Pressemitteilung am 15.09.10. Man könne niemanden zwingen, sich mit dem Thema Organspende auseinanderzusetzen.
Zudem müsse man sich fragen, ob Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Meldebehörden für Fragen der Organspende die richtigen Ansprechpartner seien. „Eine solch intime Information auf ein Dokument zu vermerken, das im täglichen Leben häufig gebraucht wird, wird das Vertrauen gegenüber der Organspende nicht steigern. Wenn Bürgerinnen und Bürger sich von staatlichen Stellen genötigt fühlen, kann dies auch zu einem Rückgang der Spendenbereitschaft führen“, so die beiden Grünen-Abgeordneten. Es erscheine im Übrigen „lebensfremd und ethisch problematisch“, wenn schon 16-Jährige genötigt würden, sich zu einer späteren Organspende zu erklären.
„Bei einem solch sensiblen Thema erreicht man nichts mit platten Lösungsvorschlägen. Vielmehr sind die entscheidenden Akteure in Politik, Ärzteschaft, Kliniken und Krankenkassen gefragt, durch sehr behutsame Aufklärung Vertrauen gegenüber der Organspende aufzubauen. In erster Linie brauchen wir eine Konkretisierung der Meldepflicht im Transplantationsgesetz und bessere Strukturen an Kliniken, beispielsweise durch Transplantationsbeauftragte“, so Terpe und Scharfenberg abschließend.
Ergänzung 10.11.10: Neue Kampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und Ethikrat-Diskussion
Unter dem Motto „Organpaten werden“ startete am 12.10.10 in Berlin die neue Kampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), die rund um das Thema Organ- und Gewebespende informieren will. Ziel ist es laut den Initiatoren, die Zahl derer, die einen Organspendeausweis bei sich tragen, zu erhöhen.
Um Menschen dort zu erreichen, wo sie sich täglich aufhalten, wandert laut Pressemitteilung der BZgA die Kampagne mit einer Informationstour quer durch Deutschland und macht Station in großen Einkaufszentren deutscher Großstädte und bei Großveranstaltungen. Im Mittelpunkt stehen zehn elektronische und mechanische Informationsmodule. Da die Entscheidung zur Organspende ein sehr persönliches Thema ist, stehen außerdem ein geschultes Team und Vertreterinnen und Vertreter von örtlichen Selbsthilfegruppen für Fragen und Anliegen der Besucher zur Verfügung. Darüber hinaus hält die neue Internetseite www.organpaten.de eine Fülle an Informationen zu dem Thema bereit und bietet allen Interessierten die Möglichkeit, sich beispielsweise als Organpate mit einem Statement im Internet einzutragen.
Repräsentativerhebung zu Wissen, Einstellung und Verhalten der Allgemeinbevölkerung zur Organspende
Aktuell zum Kampagnenstart stellte die BZgA die Ergebnisse einer neuen Repräsentativerhebung zu Wissen, Einstellung und Verhalten der Allgemeinbevölkerung zur Organspende vor. Die Befragung zeigt, dass die Spendebereitschaft zugenommen hat. Stimmten vor zwei Jahren 67 Prozent der Befragten zwischen 14 und 75 Jahren einer Organ- und Gewebespende nach ihrem Tod zu, so stieg ihr Anteil im Jahr 2010 auf 74 Prozent. Auch der Besitz des Organspendeausweises ist in den letzten zwei Jahren von 17 auf 25 Prozent deutlich gestiegen. Als Gründe sagen diejenigen, die über einen Ausweis verfügen, zu 97 Prozent, dass sie anderen helfen möchten und zu 72 Prozent, dass sie ihre Angehörigen mit dieser Entscheidung nicht belasten möchten. Auch wären 95 Prozent der Organspendeausweisbesitzer froh, selbst ein Organ zu erhalten, wenn sie eines brauchen würden.
Demgegenüber sagen 62 Prozent derjenigen, die bislang keinen Organspendeausweis haben, dass sie sich jetzt noch nicht entscheiden können und wollen, 47 Prozent fürchten Missbrauch durch Organhandel und 33 Prozent haben Angst, dass im Ernstfall nicht mehr alles medizinisch Notwendige von den Ärzten für sie getan wird.
Was die Informiertheit der Bevölkerung zu dem Thema betrifft, so zeigen die Ergebnisse der BZgA-Studie, dass 39 Prozent der Befragten nur über sehr wenig Informationen zum Thema Organspende verfügen und 9 Prozent sogar schlecht informiert sind. Deshalb setzt die neue Kampagne „ORGANPATEN werden“ genau an diesem Wissensdefizit an, um Menschen zu informieren und zur persönlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Organ- und Gewebespende anzuregen, damit sie ihre persönliche Haltung im Ausweis dokumentieren und mit sich tragen. Denn die BZgA-Studie belegt, dass Menschen, die gut informiert sind, eher einen Organspendeausweis ausfüllen, der Organ- und Gewebespende eher positiv gegenüber stehen, keine Befürchtungen vor Missbrauch durch Organhandel haben und weniger Ängste davor haben, dass im Todesfall nicht alles medizinisch Notwendige für sie getan wird.
„Die Ergebnisse der Studie weisen grundsätzlich in eine erfreuliche Richtung“, betonte Prof. Dr. Elisabeth Pott, Direktorin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. „Sie zeigen aber auch, dass noch immer ein großer Aufklärungsbedarf besteht. Deshalb informieren wir mit den Aktionsmodulen unserer neuen Kampagne gezielt über die Themen, die die Menschen interessieren und können in den Beratungsgesprächen vor Ort konkret auf Ängste, Vorbehalte und Mythen, die in der Bevölkerung gegenüber dem Thema Organspende bestehen, eingehen.“
Weiterführende Informationen:
- BZgA-Kampagne unter www.organpaten.de
- Ergebnisse der Studie „Wissen, Einstellung und Verhalten der Allgemeinbevölkerung zur Organspende 2010“
Veröffentlicht 12.10.10
Deutscher Ethikrat diskutiert Äußerungspflicht zur Organspende
Am 27. Oktober 2010 diskutierte der Deutsche Ethikrat in Berlin im Rahmen einer öffentlichen Abendveranstaltung der Reihe „Forum Bioethik“ das Thema „Äußerungspflicht zur Organspende. Sollte der Staat verlangen, dass sich jeder erklärt?“.
Wie der Ethikrat in einer Pressemitteilung zur Veranstaltung ausführte, berichtete eingangs Peter Neuhaus, Direktor der Klinik für Allgemein-, Visceral- und Transplantationschirurgie der Charité in Berlin, über die bisherige Entwicklung der Transplantationsmedizin und ihre Perspektiven. Verglichen mit anderen europäischen Ländern bewege sich Deutschland bezüglich des Aufkommens der postmortalen Organspende mit knapp 15 pro Million Einwohner im unteren Drittel. Um dieses Problem zu bewältigen und die wissenschaftliche Entwicklung der Transplantationsmedizin voranzubringen, sprach sich Neuhaus dafür aus, die Transplantationen stärker in größeren Zentren zusammenzuführen, und forderte die Politik auf, sich an diesem Vorhaben zu beteiligen.
Thomas Breidenbach, Geschäftsführender Arzt der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO), Region Mitte, ergänzte diesen Sachstandsbericht aus der praktischen Perspektive der Organspende. Als Ursachen für die niedrige Zustimmungsrate der Angehörigen benannte Breidenbach laut Ethikrat die Befürchtungen, dass Ärzte nicht mehr alles in ihrer Macht Stehende tun könnten, um das Leben des Angehörigen zu retten, aber auch die Angst vor Organhandel und die unterschiedliche rationale und emotionale Wahrnehmung des Hirntods. Um langfristige psychische Belastungen zu vermeiden, sei daher ein kompetenter und behutsamer Umgang mit den Angehörigen wichtig, denn „ein zu schnelles Ja kann genauso falsch sein wie ein zu schnelles Nein“.
Weyma Lübbe, Mitglied des Deutschen Ethikrates, referierte zu ethischen Implikationen der Äußerungspflicht zur Organspende. Ihrer persönlichen Einschätzung zufolge komme die bisherige öffentliche Diskussion, zu der sie auch die Stellungnahme des früheren Nationalen Ethikrates „Die Zahl der Organspenden erhöhen – Zu einem drängenden Problem der Transplantationsmedizin in Deutschland“ zählte, „einer massiven öffentlichen moralischen Nötigung gleich, sich zur postmortalen Organspende bereit zu erklären“. Dies sei mit der gleichzeitig vertretenen These kaum zu vereinbaren, dass auch die Entscheidung, nicht zu spenden, unbedingt zu respektieren sei.
Sie hob hervor, dass man eine rechtliche Äußerungspflicht zur Organspende nicht etablieren könne, ohne zu fragen, was im Falle der Nichtäußerung passieren solle. Sie kritisierte die These, derzufolge man aus der Nichtäußerung – auch nach staatlich begleiteter Beschäftigung mit der Thematik – auf eine Zustimmung schließen könne. Unter Bezugnahme auf die „Goldene Regel“, die besagt, dass man zu Leistungen, die man von anderen erwartet oder erhofft, auch selbst bereit sein sollte, führte sie aus: „Die zu wahrende Reziprozität ist die Wechselseitigkeit des Respekts für die persönliche Entscheidung, nicht die Wechselseitigkeit der Spendebereitschaft.“
In der folgenden, von Ratsmitglied Eckhard Nagel moderierten Podiumsdiskussion wurde vor allem die Frage erörtert, inwieweit man vom Einzelnen eine Äußerung zur Organspende erwarten kann. Als Angehörige eines Organspenders plädierte Marita Donauer aus eigener Erfahrung dafür, sich zu erklären. Ihre Überzeugung brachte sie auf die Formel: „Ich kann nicht nicht antworten.“ Somit bestehe für einen Angehörigen die Pflicht zur Äußerung, auch wenn es für diesen schwierig sei, den mutmaßlichen Willen des Verstorbenen exakt zu bestimmen.
Kritik an geplanter Widerspruchs- oder Zwangserklärungsregelung
Annette Widmann-Mauz (MdB), Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Gesundheit, zufolge ist eine Spende ein altruistisches Geschenk, das man nicht erwarten könne. Sie bekräftigte, es dürfe „keine Pflicht zur Spende und keine Pflicht zur Äußerung geben“. Vielmehr müssten andere Instrumente mobilisiert werden, die es den Menschen erleichtern, eine Entscheidung zu treffen.
Hans Lilie, Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsvergleichung und Medizinrecht der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, sieht auf jeden Fall tieferen Erörterungsbedarf, weil sich die Äußerungspflicht verfassungsrechtlich nicht herleiten lasse. Lilie zeigte sich davon überzeugt, dass es gleichgültig sei, für welches Modell – Zustimmungslösung oder Widerspruchslösung – man sich entscheide, solange die organisatorischen Mängel im Bereich der Transplantationsmedizin nicht behoben würden.
Jutta Riemer, Vorsitzende des Vereins Lebertransplantierte Deutschland e.V. schätzte ein, dass es für die Betroffenen in erster Linie wichtig sei zu wissen, dass die Organspende auf freiwilliger Basis zustande gekommen sei. Mit Blick auf die übereinstimmend befürwortete Aufklärungspflicht sei ein flächendeckendes, abgestimmtes Konzept erforderlich.
In der anschließend für das Publikum geöffneten Diskussion wurde ein geregeltes formales Äußerungsverfahren auf der Basis der Freiwilligkeit vorgeschlagen, von verschiedenen Seiten die Widerspruchsregelung oder gar die Solidarpflicht zur Organspende gefordert. Außerdem bedürfe es einer breiten öffentlichen Diskussion, in die alle, auch die kontroversen Argumente einfließen. Während seiner Plenarsitzung am nächsten Tag hat der Ethikrat beschlossen, eine Arbeitsgruppe einzurichten, die Empfehlungen bezüglich einer möglichen Äußerungspflicht erarbeiten soll.
Weiterführende Informationen:
- Informationen zur Ethikrat-Veranstaltung „Äußerungspflicht zur Organspende – Sollte der Staat verlangen, dass sich jeder erklärt? “ am 27.10.10
mit Präsentationen, Audiomitschnitten und (in Kürze) der Simultanmitschrift
- Hirntod-Konzept: Welche Medizin wollen wir?
Wenn der Ethikrat über Transplantationsmedizin debattiert, geht es meist um die Organspende. Voraussetzung dafür ist der diagnostizierte Hirntod. Neue Erkenntnisse stellen diese Praxis in Frage: Warum waches Bewusstsein nicht das einzige Kriterium für menschliches Leben sein kann.
Alexandra Manzei
FRANKFURTER RUNDSCHAU 26.10.10
- Zum Tag der Organspende 2010 – Debatte über Widerspruchslösung – Teil 1
Die Debatte zur Widerspruchsreglung bzw. Zwangserklärungsregelung flammte bereits Anfang Juni wieder auf. Mehr dazu im Themenspecial Teil 1 vom 06.06.10.
- » Zur Themenrubrik Gesetz zur Entscheidungslösung bei Organspenden
Pressespiegel zur Debatte um die Einführung einer Widerspruchsregelung / Zwangserklärungsregelung bei Organspenden
Ergänzend finden Sie in einer Presseschau eine Auswahl an Meldungen zur Debatte um die Einführung einer Widerspruchsregelung / Zwangserklärungsregelung bei Organspenden.