28.07.12: Transplantations-Skandal in Göttingen – Mediziner unter Manipulationsverdacht bei Organspende-Warteliste

28.07.12, ergänzt am 04.08. und 11.08.12: Transplantations-Skandal in Göttingen – Mediziner unter Manipulationsverdacht bei Organspende-Warteliste

Vergangene Woche wurde ein bislang in Deutschland einmaliger Transplantationsskandal bekannt. Medienberichten zufolge soll ein ehemaliger leitender Transplantationsmediziner am Universitätsklinikum Göttingen in 25 Fällen Krankenakten gefälscht haben, um ausgewählte Patienten auf der Warteliste für eine Lebertransplantation nach oben zu schieben. Dabei wurden offenbar Laborwerte gefälscht, so dass die Patienten kränker erschienen als sie wirklich waren. Dadurch wurde ihnen von der zuständigen internationalen Organvermittlungsstelle Eurotransplant schneller eine Spenderleber zugeteilt.

Symbolbild OrganentnahmeAusgangspunkt des Skandals waren stichprobenartige Untersuchungen der Bundesärztekammer (BÄK) von Patientenakten im Rahmen von Unregelmäßigkeiten bei einer Lebertransplantation. Dabei habe die BÄK weitere Verdachtsfälle festgestellt und bereits Ende Juni den Vorstand der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) informiert, erklärte die UMG. Hochgekocht ist die Sache aber erst nach einem Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 20. Juli.

Auf der Suche nach Mittätern

Offenbar hat der Transplantationschirurg bei den Manipulationen nicht alleine gehandelt. Es besteht der Verdacht, dass es mehrere Personen gegeben haben soll, die ihn dabei unterstützt haben. Bei einem weiteren Arzt seien bereits Hausdurchsuchungen erfolgt und Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Braunschweig eingeleitet worden. Bei dem Beschuldigten handelt es sich um den Abteilungsdirektor der Gastroenterologie, der mit Voruntersuchungen der Patienten befasst war, die auf eine Lebertransplantation warteten. Die UMG habe mit dem Abteilungsdirektor einvernehmlich vereinbart, dass seine Dienstgeschäfte bis zur Aufklärung der Vorwürfe ruhen, teilte die Klinik am 26. Juli mit. Es habe sich der Verdacht erhärtet, dass er an den Manipulationen beteiligt war oder selbst manipuliert habe.

Die Staatsanwaltschaft Göttingen ermittelt mittlerweile wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung, da möglicherweise durch Manipulationen in der Klinik Menschen auf der Warteliste andernorts gestorben seien. Zudem ermittelt die Staatsanwaltschaft in Braunschweig seit geraumer Zeit gegen den Transplantationsmediziner wegen möglicher Bestechlichkeit. Er wurde bereits im Dezember 2011 in Göttingen entlassen. Das Universitätsklinikum habe sich sofort von dem betreffenden Chirurgen getrennt, als es von dem Manipulationsverdacht erfuhr, erklärte Martin Siess, Vorstand Krankenversorgung des Klinikums in Göttingen. Wie die Bildzeitung berichtete, habe sich der Arzt bei einer Klinik in Saudi-Arabien beworben und sei auf freiem Fuß.

Motive für die Manipulation der Wartelisten könnten möglicherweise die finanziellen Anreize gewesen sein, da der Mediziner für jede Transplantation eine Bonuszahlung von ca. 1500 Euro bekommen habe. Das heißt, je mehr Transplantationen er durchführte, desto höher fiel sein Gehalt aus. Zuletzt führte der Arzt 50 Transplantationen in einem Jahr durch, was angeblich ein Spitzenwert in Deutschland sei. Derartige Bonussysteme seien nicht unüblich. An der Göttinger Klinik seien sie unterdessen als Reaktion auf den Skandal aber umgehend abgeschafft worden.

Ermittlungen im Universitätsklinikum Regensburg 2005

Bemerkenswert in dem Transplantationsskandal ist, dass diversen anderen Berichten zufolge der beschuldigte Oberarzt bereits 2005 in Zusammenhang mit Organspenden negativ aufgefallen ist. Damals arbeitet der Arzt am Universitätsklinikum Regensburg (UKR) und es seien jordanische Patienten verbotenerweise auf eine Warteliste für europäische Transplantationspatienten gesetzt worden. Zudem sei eine Leber in Jordanien transplantiert worden. Die ausführliche Prüfung u. a. durch die Staatsanwaltschaft habe jedoch ergeben, dass kein strafrechtlich relevantes Verhalten vorliege. Nach Prüfung der Sachlage sei außerdem kein Ordnungswidrigkeitsverfahren eingeleitet worden (siehe dazu die Stellungnahme des Universitätsklinikums Regensburg vom 27.07.12 zu den Vorfällen im Bereich der Lebertransplantation). Der Uniklinik Göttingen seien diese Vorfälle bei der Einstellung des Transplantationsmediziners jedoch völlig entgangen.

Nach Bekanntwerden der Vorfälle in Göttingen durch die Medien hat unterdessen auch der Vorstand des Universitätsklinikums Regensburg am 23.07.12 veranlasst, sämtliche Lebertransplantationen am UKR im Zeitraum 2003 bis 2008, dem Zeitraum in welchem der beschuldigte Oberarzt dort tätig war, einer genauen Einzelfallprüfung zu unterziehen, teilte die Regensburger Klinik in der Stellungnahme mit.

Reaktionen auf Göttinger Transplantationsskandal: Bestürzung und Forderung nach lückenloser Aufklärung

Der Transplantationsskandal in Göttingen mit den möglichen massenhaften Manipulationen der Warteliste bei Lebertransplantationen hat in den Medien und bei zuständigen Stellen einhellige Bestürzung ausgelöst und Forderungen nach umfassender Aufklärung und Konsequenzen. Tenor war, dass durch diesen Fall die Organspendebereitschaft in Deutschland massiven Schaden genommen haben dürfte.

Der Vorsitzende der Ständigen Kommission Organtransplantation der Bundesärztekammer, Prof. Dr. Hans Lilie sprach sich vor dem Hintergrund der aktuellen Berichte für eine Überarbeitung der bisherigen Regelungen für Transplantationen aus. Er werde sich dafür stark machen, dass die Bundesärztekammer ihre Richtlinien verschärft. Hierbei werde auch an ein Vier-Augen-Prinzip gedacht, sagte Lilie der Süddeutschen Zeitung am 20. Juli.

Dies sei „der schlimmste Vorfall, von dem er in der deutschen Transplantationsmedizin je gehört“ habe. Zur Aufklärung sei bereits eine „Task Force“ aus Mitgliedern der Ständigen Kommission Organtransplantation und der Prüfungskommission gegründet worden, die mit kriminalistischen Methoden die Staatsanwaltschaft bei ihrer Arbeit unterstützen soll.

Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr zeigte sich entsetzt über die Vorwürfe und forderte eine „schonungslose Aufklärung“ der Vorfälle. Er befürchtet, dass die Berichte die Bereitschaft zur Organspende „massiv erschüttern“ könnten. Ansonsten hielt sich Bahr relativ zurück.

Bundesärztekammerpräsidet sieht Klinikträger in besonderer Verantwortung

MontgomeryDer Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Frank Ulrich Montgomery sieht in einem Interview mit der „Passauer Neuen Presse“ vom 28. Juli die Klinikträger in besonderer Verantwortung. Vor dem Hintergrund des aktuellen Falles müsse man fragen, ob die Selbstkontrolle in den Kliniken ausreichend funktioniert. Es müsse geklärt werden, ob bei der Auswahl von Führungspersonal für die Transplantationsmedizin „wirklich gewissenhaft gearbeitet wird“.

Dass in Göttingen von den Regensburger Vorfällen gar nichts bekannt gewesen sein soll, sei „schon ein starkes Stück“, so der BÄK-Präsident. Straftaten in der Transplantationsmedizin seien „wirklich schwere Delikte“, die „absolut konsequent geahndet“ werden müssten. Zudem benötigten die Überwachungs- und Kontrollgremien von Deutscher Stiftung Organtransplantation und Bundesärztekammer nach Meinung von Montgomery mehr Kompetenzen. Auch Montgomery sieht einen „großen Vertrauensschaden“ für die Organspende und versprach „lückenlose Aufklärung“.

„Mangelverwaltung bei Spenderorganen öffnet krimineller Energie Tür und Tor“

WindhorstDer Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe, Dr. Theodor Windhorst bezeichnete den Organspende-Skandal als „Super-Gau für das notwendige Vertrauen in das System“. „Wir sind beim Organhandel angekommen“, erklärte Windhorst in einer Presseaussendung vom 21. Juli.

„Im Normalfall schließt das funktionierende System der Organspende mit der Überwachung durch Eurotransplant kriminelle Machenschaften aus. Aber die derzeitige Mangelverwaltung bei Spenderorganen öffnet krimineller Energie nun Tür und Tor und nutzt die Angst der kranken Menschen vor dem Tod auf der Warteliste aus. Ich kann nur hoffen, dass das Vertrauen der Bevölkerung in das gute System der Organspende nicht zu sehr erschüttert ist“, so Windhorst. Die Organspende dürfe nicht durch kriminelle Machenschaften diskreditiert werden. Es gelte jetzt, dieses verloren gegangene Vertrauen wieder aufzubauen. Dies sei man auch den Menschen auf der langen Warteliste für ein lebenserhaltendes Organ schuldig.

DSO-Vorstand Kirste kritisiert Medienberichterstattung

KirsteProfessor Dr. Günter Kirste, Medizinischer Vorstand der Deutschen Stiftung Organstransplantation (DSO), der zuständige Organspende-Koordinierungsstelle in Deutschland, erklärte auf der Webseite der DSO in einem undatierten Statement: „Wir sind zutiefst bestürzt über die Betrugsvorwürfe gegen die Göttinger Universitätsklinik.“ Für die Organspende und Transplantation seien „Vertrauen und Transparenz die entscheidenden Parameter“.

„In einer Phase, in der mit der Novellierung des Transplantationsgesetzes und dem Gesetz zur Entscheidungslösung wichtige Schritte zur Verbesserung der Organspendesituation gemacht wurden, werden viele Menschen verunsichert“, so Kirste. Auch er forderte umfassende Aufklärung sowie die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, wolle man das Vertrauen zurück zu gewinnen, sowie die nötigen Konsequenzen aus dem Fall zu ziehen, „damit ein solcher Missbrauch des Systems der Organverteilung künftig nicht mehr möglich ist“.

Mit Blick auf die lawinenartige Medienberichterstattung zum Fall Göttingen kritisierte Kirste, dass in den Medien immer wieder „fälschlich von einem Organspendeskandal“ gesprochen werde. Es handle sich hier aber um einen „Allokationsbetrug oder schlimmstenfalls Transplantationsskandal, der nicht mit der eigentlichen Organspende vermischt werden darf“. Dies sei „wichtig klarzustellen“, da die Bereiche der Organspende, Organvermittlung und Transplantation per Gesetz streng getrennt seien.“ Die Bereitschaft zur Organspende darf – so schwierig es auch ist – nicht in Frage gestellt werden, weil ein Zentrum betrogen hat. Darum gilt: Ich bin Organspender“, so Kirste abschließend.

Gesetz zur Entscheidungslösung bei Organspenden tritt zum 1. November 2012 in Kraft

Kurz vor Bekanntwerden des Transplantationsskandals hat Bundespräsident Joachim Gauck am 12.07.12 das kürzlich vom Deutschen Bundestag verabschiedete Gesetz zur Entscheidungslösung bei Organspenden unterzeichnet. Am 18.07.12 wurde es im amtlichen Bundesgesetzblatt veröffentlicht und tritt damit zum 1. November 2012 in Kraft.

Ab 1. November 2012 sollen dann alle Bürgerinnen und Bürger ab 16 Jahren von ihren Krankenkassen angeschrieben und zu ihrer Haltung einer Organspende im Falle des festgestellten Hirntodes befragt werden. Eine Äußerungspflicht besteht jedoch nicht. Man kann die Schreiben auch ignorieren. Interessant wäre zu wissen, wie viele Menschen sich dann noch an den „bislang einmaligen“ Organspendeskandal erinnern werden und welchen Einfluss dies auf ihre Entscheidung haben wird.

Ergänzung vom 04.08.12: Organspendeskandal weitet sich aus – Ermittlungen zu Transplantationen in Regensburg

Der Organspendeskandal von Göttingen zieht immer weitere Kreise. Nun wurde bekannt, dass auch am Uniklinikum Regensburg in ebenfalls 23 Fällen der Verdacht besteht, dass Manipulationen von Krankendaten im Zusammenhang mit Lebertransplantationen vorgenommen wurden. Dies teilte der bayerische Wissenschaftsminister Wolfgang Heubisch am 02.08.12 in einer Presseaussendung mit.

Mehr dazu im aktuellen Themenspecial vom 04.08.12: Organspendeskandal weitet sich aus – Ermittlungen zu Transplantationen in Regensburg

Ergänzung vom 11.08.12: Steigende Zahl an beschleunigten Vermittlungsverfahren bei Transplantationen – Kommissionen, Bundesärztekammer, Deutsche Krankenhausgesellschaft und GKV-Spitzenverband fordern mehr Transparenz und effizientere Kontrolle

Symbolbild OrganenspendeVor dem Hintergrund des Transplantationsskandals in Göttingen und Regensburg der vergangenen Wochen kommen nun immer weitere brisante Fakten auf den Tisch. Wie jetzt bekannt wurde, werden offenbar seit einigen Jahren immer mehr Organe in den Transplantationszentren im so genannten „beschleunigten Verfahren“ an der offiziellen Warteliste vorbei verpflanzt. Dies geht aus einer Antwort des Bundesgesundheitsministeriums auf eine Anfrage des Grünen-Abgeordneten Dr. Harald Terpe hervor.

Als Reaktion auf den anhaltenden Organspendeskandal haben unterdessen in einer gemeinsamen Erklärung vom 9. August die Prüfungskommission und Überwachungskommission, Bundesärztekammer, Deutsche Krankenhausgesellschaft und der GKV-Spitzenverband mehr Transparenz und effizientere Kontrolle in der Transplantationsmedizin angemahnt. Die Reaktionen darauf fielen weitgehend kritisch aus.

Mehr im Themenspecial: Steigende Zahl an beschleunigten Vermittlungsverfahren bei Transplantationen – Kommissionen, Bundesärztekammer, Deutsche Krankenhausgesellschaft und GKV-Spitzenverband fordern mehr Transparenz und effizientere Kontrolle
 

Weiterführende Informationen:

Presseschau zum Transplantationsskandal in Göttingen

Ergänzend gibt es eine Presseschau mit einer Auswahl an Meldungen zum Organspendeskandal in Göttingen. Diese Zusammenstellung wird gegebenenfalls weiter ergänzt.

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