30.07.13: Kritische Anfrage Linksfraktion im Bundestag an Bundesregierung zu Hirntod und Organspende

30.07.13, ergänzt am 19.08.13: Wachsende Zweifel am Hirntodkonzept: Kritische Fragen der Linksfraktion im Bundestag an die Bundesregierung zu Hirntod und Organspende

Symbolbild HirntodfeststellungDie seit längerem in internationalen und deutschen Fachkreisen geführte Debatte über den umstrittenen Hirntod als Kriterium für eine Organentnahme sorgt nun auch im Deutschen Bundestag für kritische Fragen.

Am 23.07.13 haben Abgeordnete der Fraktion Die Linke unter Verweis auf eine verbreitete Skepsis in Fachkreisen hinsichtlich der Hirntodkonzeption und der Hirntoddiagnostik eine sogenannte Kleine Anfrage an die Bundesregierung zum Thema Hirntod gestellt.

Darin geht es in insgesamt 25 Einzelfragen unter anderem um die Feststellung der Diagnose „Hirntod“ als Voraussetzung zur Organentnahme, die Ausgestaltung der Richtlinien und um Zweifel an der Hirntodkonzeption. Des Weiteren geht es um eine mögliche Änderung des Transplantationsgesetzes, die Qualität, Durchführung und Überprüfung der Hirntodfeststellung und die Qualifikation der beteiligten Ärzte und eine Unterstützung durch sogenannte Konsiliarteams der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO). Außerdem stellen die Linken Fragen zu einer Überarbeitung der Richtlinie zur Hirntodfeststellung durch die Bundesärztekammer sowie eine verfassungsrechtliche Einschätzung der Problematik.

Fragen zu Hirntodfeststellungen und Richtlinien im Mittelpunkt

Bei ihrer Anfrage stützen sich die die Abgeordneten um Kathrin Vogler und Dr. Martina Bunge u. a. auf Berichte des Fernseh-Magazins „Report“, eine Anhörung beim Deutschen Ethikrat im März letzten Jahres sowie diverse Fachartikel.

„Das Vertrauen in das System der Organtransplantation in Deutschland wurde in den letzten Jahren nicht nur durch Missstände innerhalb der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) und durch die Skandale um Manipulationen der Wartelisten für Organempfängerinnen und -empfängern beschädigt. In der Bevölkerung, bei Fachmedizinerinnen und -medizinern sowie bei Ethikerinnen und Ethikern besteht Skepsis gegenüber der Hirntodkonzeption und der Hirntoddiagnostik“, heißt es in der Vorbemerkung der Fragesteller.

Screenshot Linksfraktion Anfrage zum Hirntod 23.07.13Für diese Vorbehalte gebe es eine Reihe von Gründen. „Die Zweifel an der Hirntodkonzeption verstärken sich bei vielen Fachleuten aufgrund der Beobachtungen, dass auch bei hirntoten Menschen Herzschlag wahrnehmbar sei, die Fähigkeiten zu Ausscheidung und Temperaturregulierung erhalten bleiben, Schwangerschaften ausgetragen werden und der Abstand zwischen Hirntod und Eintritt des Herzstillstands Wochen bis mehrere Jahre betragen kann“, so die Linken.

Hirntote sind Sterbende

Auch von renommierten Wissenschaftlern wie dem US-amerikanischen Neurologen Prof. D. Alan Shewmon, der selbst lange Jahre Befürworter der Hirntodkonzeption war, oder dem Potsdamer Ethik-Professor Ralf Stoecker würden inzwischen große Zweifel vorgetragen, da es sich zum Zeitpunkt der Hirntodfeststellung ihrer Meinung nach zwar um sterbende Menschen handele, aber nicht schon um Tote. Doch nicht nur an der Hirntodkonzeption, sondern auch an der Hirntoddiagnostik in Deutschland werde Kritik geübt. Diese Kritik betrifft mehrere Aspekte, die Unsicherheiten bei der Feststellung des Hirntods mit sich bringen.

Die Linken wollen von der Bundesregierung daher unter anderem wissen, ob die Bundesregierung beabsichtigt, gegebenenfalls zusammen mit dem Deutschen Ethikrat, die Debatte um die Hirntodkonzeption aufzugreifen und öffentlich zu führen und ob die Bundesregierung Änderungen des Transplantationsgesetzes vorschlagen würde, wenn im Rahmen einer solchen Debatte die Richtigkeit kritischer Positionen nicht auszuschließen wäre.

Weiters wollen die Abgeordneten mit Blick auf diverse Richtlinien zur Transplantation und Hirntodfeststellung wissen, ob es die Bundesregierung für verfassungsrechtlich unbedenklich hält, dass eine solche Frage, bei der es um Entscheidungen über Leben und Tod geht, an einen privaten Verein, wie die Bundesärztekammer delegiert wird und so weder Parlament noch Regierung direkten Einfluss auf diese Richtlinien mehr haben bzw. eine Änderung nicht aktiv herbeiführen oder gar erzwingen können.

Fragwürdige Qualität der Hirntodfeststellungen

Außerdem interessiert die Abgeordneten der Linken, welche Erkenntnisse die Bundesregierung hinsichtlich der Qualität der Hirntodfeststellungen hat und ob ihr diesbezügliche Umfragen, Untersuchungen, Überprüfungen, Studien oder ähnliches bekannt sind, die Aufschluss über die Qualität der Hirntodfeststellungen und der Fehlerhäufigkeit geben könnten, und wenn ja, welche.

Interessant dürfte auch die Antwort auf die Frage werden, welche Erkenntnisse die Bundesregierung hat bezüglich einer Überprüfung zurückliegender Hirntoddiagnostiken in ganz Deutschland auf Sorgfältigkeit und Zweifelsfreiheit und ob die Bundesregierung die derzeitigen Kontrollmechanismen auch bezüglich der Vollständigkeit der gesetzlich vorgeschriebenen Hirntodprotokolle für ausreichend hält.

Die Bundesregierung hat laut Geschäftsordnung normal vierzehn Tage Zeit, die notwendigen Informationen zum Thema einzuholen und alle Fragen zu beantworten, das heißt voraussichtlich bis zum 6. August. Auf das Ergebnis darf man sehr gespannt sein. Denn die Antworten – oder auch fehlende Antworten mangels vorliegenden Informationen – werden mit großer Wahrscheinlichkeit für neuen Zündstoff in der Organspende-Debatte sorgen, Dies aber wohl erst in der nächsten Legislaturperiode nach den Wahlen am 22. September 2013.
 

Ergänzung 19.08.13: Bundesregierung legt Antwort zur Hirntod-Anfrage vor

Am 08.08.13 hat die Bundesregierung ihre Antwort auf die Kleine Anfrage der Linksfraktion zum Hirntod vorgelegt. Fazit: Die Bundesregierung hält an der derzeitigen Regelung zur Organspende und Hirntodfeststellung fest und sieht keinen Änderungsbedarf. Diverse Fakten in der Anfrage werden abgebügelt, verleugnet oder als unproblematisch dargestellt.

Konkret sieht die Bundesregierung ungeachtet aller Kritik keinen Anlass dafür, die angewandte Hirntoddiagnostik als Voraussetzung für eine Organspende in Zweifel zu ziehen. Die ärztlichen Fachorganisationen hätten erst im August 2012 die „Erklärung Deutscher Wissenschaftlicher Gesellschaften zum Tod durch völligen und endgültigen Hirnausfall“ aus dem Jahr 1994 bekräftigt, teilte die Regierung in ihrer jetzt vorliegenden Antwort vom 9. August auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke zur Begründung mit.

Bundesregierung: Zweifel halten einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand

Die Fachgesellschaften hätten festgestellt, „dass der nachgewiesene und unumkehrbare Ausfall der Hirnfunktionen auch bei intensivmedizinisch aufrechterhaltener Herz-Kreislauf-Funktion ein wissenschaftlich belegtes, sicheres Todeszeichen bedeutet“. In dem Zusammenhang vorgebrachte Bedenken und Zweifel hielten einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand, so die Bundesregierung.

Die Linksfraktion hatte in ihrer Anfrage auf eine verbreitete Skepsis in Fachkreisen hinsichtlich der Hirntodkonzeption und der Hirntoddiagnostik verwiesen. So hatten Die Linken in ihrer Vorbemerkung zur Anfrage erklärt, dass sich die Zweifel an der Hirntodkonzeption bei vielen Fachleuten verstärken, „aufgrund der Beobachtungen, dass auch bei hirntoten Menschen Herzschlag wahrnehmbar sei, die Fähigkeiten zu Ausscheidung und Temperaturregulierung erhalten bleiben, Schwangerschaften ausgetragen werden und der Abstand zwischen Hirntod und Eintritt des Herzstillstands Wochen bis mehrere Jahre betragen kann“.

Auch von renommierten Wissenschaftlern wie dem US-amerikanischen Neurologen Prof. D. Alan Shewmon, der selbst lange Jahre Befürworter der Hirntodkonzeption war, oder dem Potsdamer Ethik-Professor Ralf Stoecker würden inzwischen große Zweifel vorgetragen, da es sich zum Zeitpunkt der Hirntodfeststellung ihrer Meinung nach zwar um sterbende Menschen handele, aber nicht schon um Tote (siehe oben). Das Pendant zum Deutschen Ethikrat in den USA, das „President’s Council on Bioethics“ vertritt in einem Papier vom Dezember 2008 ebenfalls die Einschätzung, dass eine Gleichsetzung von Hirntod und Tod nicht mehr aufrechtzuhalten sei.

Bundesregierung wischt Argumente weg

Die Bundesregierung wischt diese Argumente jedoch mit dem Verweis auf diese eine obige gemeinsame Stellungnahme einfach vom Tisch. Dass „der Abstand zwischen Hirntod und Eintritt des Herzstillstandes Wochen bis mehrere Jahre betragen kann“, sei „naturwissenschaftlich-medizinisch lange bekannt“, heißt es in der Regierungsantwort. Weltweit sei dabei jedoch „keine Erholung der Hirnfunktion eines Menschen nachgewiesen worden, der nach richtliniengemäß festgestelltem und dokumentiertem Ausfall der Gesamtfunktion seines Gehirns, wie lange auch immer, weiterbehandelt wurde“.

Demzufolge hätten die Publikationen von Prof. D. Alan Shewmon in keinem Land der Welt eine andere Beurteilung des Hirntodes als sicheres Todeszeichen als bislang bewirkt. Auch sei weltweit keine Wissenschaftliche Fachgesellschaft der Auffassung von Shewmon gefolgt, dass ein hirntoter Mensch lebe.

Erkenntnisse zur Qualität der Hirntodfeststellungen

„Zu unterscheiden von der unveränderlichen, weil naturgegebenen Bedeutung des Hirntodes sind methodische Detailfragen einer eventuellen weiteren Fortschreibung der Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes, ob und ggf. unter welchen Bedingungen die Irreversibilität der Ausfallsymptome des Gehirns durch noch andere als die bisherigen Verfahren nachgewiesen werden kann“, heißt es weiter. Im Hinblick auf die derzeitigen Kontrollmechanismen, auch bezüglich der Vollständigkeit der gesetzlich vorgeschriebenen Hirntodprotokolle, halte die Regierung die im Gesetz festgelegten „Anforderungen an den Nachweis des unwiderruflichen Ablebens des Organspenders für ausreichend“.

Zur Frage welche Erkenntnisse die Bundesregierung hinsichtlich der Qualität der Hirntodfeststellungen hat, heißt es in der Antwort lapidar: „Die Hirntod-Feststellung und -Dokumentation ist in Deutschland seit 1982 standardisiert. Die Anforderungen an die Feststellung des Hirntodes sind in den Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes festgelegt. Nach Angaben der Bundesärztekammer liegen weltweit keine Feststellungen über getroffene Fehldiagnosen vor, soweit der Hirntod nach den Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes bzw. nach den in einzelnen Staaten geltenden Vorschriften festgestellt wurde.“ Gleichwohl lassen sich im Internet einige Fälle von Fehldiagnosen finden, die hier jedoch den Rahmen sprengen würden. Und es ist fraglich, ob die Richtlinien wirklich immer eingehalten werden.

Auf die Frage, ob der Bundesregierung diesbezügliche Umfragen, Untersuchungen, Überprüfungen, Studien oder ähnliches bekannt sind, die Aufschluss über die Qualität der Hirntodfeststellungen und der Fehlerhäufigkeit geben könnten, und wenn ja, welche und zur Frage, welche Erkenntnisse sie bezüglich einer Überprüfung zurückliegender Hirntoddiagnostiken in ganz Deutschland auf Sorgfältigkeit und Zweifelsfreiheit hat, folgt die einzeilige Antwort: „Der Bundesregierung sind keine strukturierten Untersuchungen zu diesem Thema bekannt.“ Sie sieht auch „keinen Anlass, entsprechende Untersuchungen in Auftrag zu geben“.

Erkenntnisse zur Verunsicherung und Skepsis bezüglich Hirntodkonzeption

Bemerkenswert ist die Antwort der Bundesregierung zur Frage, welche Erkenntnis diese hinsichtlich einer Verunsicherung und Skepsis bezüglich Hirntodkonzeption und -feststellung auch bei den mit der Organentnahme befassten Fachkräften hat. Dazu verweist das Bundesministerium für Gesundheit auf eine Studie „Einstellung, Wissen und Verhalten von Pflegekräften zur Organspende“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) aus dem Jahr 2010. Dazu wurden Pflegekräfte aus Krankenhäusern mit Transplantationsabteilungen mit Pflegekräften aus Krankenhäusern ohne Transplantationsabteilungen verglichen.

„Die Ergebnisse der Studie lassen nicht erkennen, dass bei den mit der Organentnahme befassten Fachkräften eine große Unsicherheit und Skepsis hinsichtlich des Hirntodkonzepts und der Hirntodfeststellung besteht“, so die Regierung. Sie stützt sich dabei darauf, dass 99,2 Prozent der Befragten den Hirntod korrekt definieren können.

Skepsis unter den Pflegekräften

Bei genauerer Betrachtung der Befragungsergebnisse in der Originalstudie ist jedoch durchaus ersichtlich, dass es Skepsis unter den Pflegekräften gibt. Denn nur für 73 Prozent aller befragten Pflegekräfte ist der Hirntod gleichbedeutend mit dem Tod des Menschen. Offenbar hat die Regierung die Studie nicht aufmerksam gelesen oder versucht, Nebelkerzen zu werfen, wenn sie leugnet, dass ein viertel Zweifel an der Gleichsetzung des Hirntodes mit dem Tod hat.

Der BZgA lägen darüber hinaus Erkenntnisse zur Bewertung des Hirntodes in der Allgemeinbevölkerung durch Ergebnisse aus einer Repräsentativbefragung aus dem Jahr 2012 vor. Dass der Hirntod das medizinische Kriterium für eine mögliche Organspende ist, sei mehr als drei Viertel aller Befragten, d.h. 78 Prozent, bekannt. Der Mehrheit der Bevölkerung, d.h. 87 Prozent sei bekannt, dass der Hirntod „ein sicheres Todeszeichen“ darstellt. Allerdings wurde hier nicht weiter nachgefragt, ob der Hirntod gleichbedeutend mit dem Tod ist, sondern erst im Zusammenhang mit einer anderen Frage, bei den Befragten, die ihre Ablehnung einer Organspende bekundet haben.

Im Übrigen werde darauf hingewiesen, dass das Thema Hirntod in an das Bundesministerium für Gesundheit und an die BZgA gerichteten Bürgeranfragen „eine untergeordnete Rolle“ spiele. In dem Jahresbericht der DSO „Organspende und Transplantation in Deutschland 2012“ werde ausgeführt, dass Zweifel an der Hirntoddiagnostik „selten in den Angehörigengesprächen als Ablehnungsgrund für die Organspende angeführt“ werden.

Herztod kein Kriterium für Organentnahme

Zur Frage nach möglichen Alternativen zur Hirntodkonzeption als Kriterium für eine Organentnahme sieht die Bundesregierung nach dem derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand „keine Alternative“. Mit der Feststellung des Hirntodes sei „der Tod des Menschen durch Nachweis eines der sicheren Todeszeichen zweifelsfrei festgestellt“. Der bloße Herz- und Kreislaufstillstand sei „kein sicheres Todeszeichen“. Hingegen folge ohne intensivmedizinische Behandlung auf den Hirntod unausweichlich der Herzstillstand. „Die Organentnahme nach Todesfeststellung allein durch Herzstillstand (non heart beating donor – NHBD) wurde demzufolge von der verfassten Ärzteschaft abgelehnt“, betonte die Regierung.

Diese klarstellende Aussage ist insofern beruhigend, da auch in Deutschland zur Behebung des Organmangels vereinzelt Rufe nach Einführung der Organentnahme nach Todesfeststellung allein durch Herzstillstand lauter werden. In einzelnen europäischen Ländern wird dies bereits praktiziert. Doch bislang fielen derartige Forderungen hierzulande noch nicht auf fruchtbaren Boden. Bleibt zu hoffen, dass das noch länger so bleibt.

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